Dr. Heinz-Jürgen Voß: "Chrismon - Weder Mann noch Frau" - Diese Debatte ist längst überfällig

Diese Debatte ist längst überfällig

Antwort auf Fragen in der Debatte um 'Geschlechtervielfalt' auf Chrismon nach dem Beitrag "Weder Mann noch Frau"

 

Ich freue mich sehr, dass mein Beitrag die nötigen Diskussionen angeregt hat. Besonders mutig finde ich, dass sich in diesem Zusammenhang eine Mutter zu Wort gemeldet hat, deren Kind nicht in das Zweierschema „Junge oder Mädchen“ passt. Warum öffnet sich nicht auch die Kirche einfach für ganz konkrete Menschen, mit ihren individuellen Erfahrungen? Warum war die Kirche nicht vorneweg als Verbände intergeschlechtlicher Menschen auf die gewalttätigen und traumatisierenden geschlechtszuweisenden medizinischen Eingriffe nach der Geburt hinwiesen und Unterstützung forderten? Auch theologisch begründet gibt es gute Gründe, nicht weiter an stereotypem Denken festzuhalten. So schreibt Conrad Krannich in seiner Abschlussarbeit in evangelischer Theologie, mit dem Titel „Intersexualität als theologische Herausforderung“, unter anderem:

„Gott schuf sie nicht nur als Mann und Frau. Und ihre Erschaffung gipfelt nicht in ihrer Geschlechtlichkeit. Gott schuf sie für sich und füreinander – das ist die [] eigentliche Pointe der Schöpfungsberichte und die zentrale christliche Aussage über den Menschen als relationalem Wesen. Die Engführung von personaler Identität auf reproduktive Fähigkeiten und ein damit gefordertes Festhalten an Geschlechterkategorien als theologischen Fixpunkten kann biblisch und systematisch-theologisch nicht begründet werden.” (2013, S. 50)

Für meine Expertise –biologisch-medizinische Geschlechtertheorien – habe ich mittlerweile in mehreren, zudem breit rezipierten und respektierten, Büchern und Aufsätzen den Stand der Forschung herausgearbeitet. Es ist tatsächlich so, dass noch bis in die beginnenden 1930er Jahre die Ansicht in Biologie und Medizin verbreitet war, dass vermutlich jeder (!) Mensch sowohl weibliche als auch männliche geschlechtliche Anteile in sich vereinige. Sowohl in der Hormonforschung als auch in der Genetik kam man zu widersprüchlichen Ergebnissen. Etwa der Genetiker Richard Goldschmidt folgerte aus seinen Chromosomentheorien eine ‚lückenlose Reihe geschlechtlicher Zwischenstufen‘ auf der Ebene der dann tatsächlich ausgeprägten körperlichen Merkmale. Diese Wissenschaftler wurden in den 1930er Jahren – da Juden gemäß der NS-Rassenideologie – von Forschern wie Fritz Lenz und Adolf Butenandt abgelöst, die Theorien klarer Geschlechtertrennung erarbeiteten, die besser zu den NS-Gesellschaftsvorstellungen passten. Die Historikerin Helga Satzinger hält in ihrem empfehlenswerten Buch „Differenz und Vererbung“ (2009, S. 399) fest: „In den Jahren zuvor war das Konzept der genetischen und hormonellen Geschlechterwandlung und -mischung sehr breit diskutiert worden, die Dominanz des bipolaren Modells war erst in den 1930er Jahren durch das Fehlen ihrer Vertreter, die emigrieren mussten, zustande gekommen.“ Und auch nach 1945 machten die NS-Forscher weiter Karriere.

Erst seit den 1980er Jahren zeichnet sich ein Schwenk ab: Mittlerweile wird wieder Komplexität fokussiert. Und auch die ernüchternden Ergebnisse des Humangenomprojektes (der Mensch hat kaum mehr Gene als der unscheinbare Fadenwurm) tragen dazu bei, dass sich die Biologie von Gedanken der Präformation des Organismus und hier des Genitaltraktes in Chromosomen und Genen löst und sich stärker der Prozesshaftigkeit der Organentwicklung zuwendet. Durch diesen Fokus wird darstellbar, dass ein Entwicklungsprozess nicht einfach vorgezeichnet ist, sondern flexibel auf Einflüsse verschiedenster Art reagiert. Etwa Einflüsse aus umgebenden Zellen, aus dem elterlichen Organismus und der weiteren Umgebung wirken – und führen dazu, dass auch die geschlechtliche Entwicklung individuell unterschiedlich verläuft.

Aus meiner Sicht lässt sich im Anschluss an diese Perspektiven besser, überzeugender und widerspruchsfrei(er) der Vorgang der Geschlechtsentwicklung fassen – anders als bei den Theorien, die bereits als Grundannahme festschrieben, dass es nur zwei Geschlechter geben dürfe und alle anderen geschlechtlichen Ausprägungen als ‚Störungen‘ und ‚Abweichungen‘ diskreditierten und zu tilgen suchten. Auf diese Weise hatte (und hat) theoretische Wissenschaft, die geschlechtliche Binarität behauptet, übrigens auch gewichtige Bedeutung für die aktuelle geschlechtszuweisende Praxis bei intergeschlechtlichen Kindern.

Dr. Heinz-Jürgen Voß

zurück zur Homepage